Experten und Expertinnen verabreden ein wissenschaftliches Bündnis für das Lesen
Vom 5. bis 8. November 2019 haben sich Wissenschaftler/-innen unterschiedlicher Fachdisziplinen aus Deutschland, Österreich, den Niederlanden, Norwegen, Lettland, den USA und Indien in Hannover zu aktuellen Fragen der Forschung rund um das Lesen ausgetauscht, ergänzt durch Perspektiven von Fachpersonen aus Bildungspolitik und Leseförderung. Das von der Volkswagen Stiftung finanzierte Symposium »Dimensionen des Lesens« beleuchtete Funktion und Bedeutung des Lesens im Kontext von Digitalisierung und gesellschaftlichem Wandel.
Die Teilnehmer/-innen ziehen aus der Tagung eine positive Bilanz. Sie regen die Fortführung und Intensivierung des Austauschs im Sinne einer systematischen Vernetzung und Kooperation in einem Netzwerk Leseforschung an.
Die Omnipräsenz von Schrift und Text im öffentlichen und privaten Raum lässt eine Trennung zwischen funktionalem Lesen als Instrument alltagsweltlicher Orientierung einerseits und literarisch-intellektuellem Lesen als kulturellem Handeln andererseits für Forschungsfragen irrelevant werden. Der beträchtliche Anteil von Menschen mit unzureichenden Lesekompetenzen auch in hochentwickelten Volkswirtschaften wirft nicht nur Fragen nach dem Zugang zu literarisch-ästhetisch wertvollen und erhaltenswerten Kulturgütern auf, sondern lässt bereits die Befähigung zur Bewältigung lebensweltlicher Anforderungen zur gesamtgesellschaftlichen Herausforderung werden, die wissenschaftlicher Grundlagen und Begleitung bedarf. Dies gilt insbesondere mit Blick auf demokratietheoretische Fragestellungen im Zeitalter ›postfaktischer Politik‹.
In der Wahrnehmung, Bündelung und Weiterentwicklung gemeinsamer Forschungsinteressen liegt ein Schlüssel, um Erkenntnisse und Instrumentarien aus Kognitionswissenschaft, Bildungsforschung, Psychologie, pädagogisch-didaktischen, fachdidaktischen, literatur- und sprachwissenschaftlichen, buch-, medien- und kommunikationswissenschaftlichen, ästhetisch-gestalterischen und weiteren Disziplinen anwendungsbezogen zusammenzuführen und für die Anforderungen unserer modernen Gesellschaften an das Lesen zu öffnen.
Dazu haben sich die Experten und Expertinnen in Hannover auf drei zentrale Empfehlungen verständigt:
1. Forschung zum Lesen muss die Potenziale der Vielschichtigkeit des Lesebegriffs nutzen
Verschiedene Fachdisziplinen und Forschungstraditionen legen ihren Arbeiten unterschiedliche Auffassungen des Begriffs Lesen zugrunde und befassen sich mit spezifischen oder weit gefassten Ausschnitten des Leseprozesses. Ziel der Zusammenführung der fachlichen Zugänge zu den Dimensionen des Lesens kann und darf nicht ein konsensualer Lesebegriff sein. Die Chance eines nachhaltigen Erkenntnisgewinns liegt vielmehr darin, die verschiedenen Auffassungen von und Perspektiven auf das Lesen kennenzulernen und aufzugreifen. Hierzu sollte im Sinne einer Kartierung der Forschungslandschaft systematisch und kontinuierlich erfasst werden, wer im Bereich der akademischen und der angewandten Forschung mit welchen methodischen Zugängen und Instrumentarien an welchen Fragestellungen arbeitet. Dies umfasst Untersuchungen zur Wirkung des Lesens praktischer und informativer Texte wie auch literarischer oder philosophischer Texte und deren Einfluss auf Vorstellungsvermögen, Empathie, soziale Intelligenz etc. Nur die Öffnung der Disziplinen und der Austausch ihrer Perspektiven ermöglicht es, die verschiedenen Definitionen des Begriffs des Lesens und die untersuchten Ausschnitte des Phänomens zu nutzen, um offene Fragen zu identifizieren und Mehrwert durch interdisziplinäre Forschungsverbünde zu schaffen.
2. Forschung zum Lesen muss Nicht-Lesen mitdenken
Die Untersuchung von Leseprozessen, von literarischen Formen und Inhalten oder der Wirksamkeit von gestalterischen Merkmalen, Benutzeroberflächen und weiteren Phänomenen betrachtet naturgemäß den aktiv lesenden Menschen. Ein Großteil der Forschungsvorhaben zum Lesen setzt Menschen voraus, die lesen können, zum Lesen motiviert sind und es im Alltag praktizieren (wollen). Diese Prämisse gilt jedoch nicht für alle: International vergleichende Studien belegen, dass weltweit ein beträchtlicher Anteil von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen keine ausreichenden Lesekompetenzen besitzen – auch dort, wo es hoch entwickelte Bildungssysteme gibt. Für diese Bevölkerungsgruppen stellen sich Fragen zum Lesen anders und grundlegender. Ansätze, die Leseprozesse in den Blick nehmen, sollten prüfen, wie aus Erkenntnissen über Lesende, über das Lesen an sich, seine Grundlagen, Formen und Wirkungen auch komplementär Aussagen und Beiträge abgeleitet werden können, um gering literalisierte bzw. im Lesen nicht sozialisierte und habitualisierte Personengruppen genauer zu beschreiben, Zugänge und Formate zu entwickeln, die motivierend und kompetenzfördernd sein können. Dazu ist eine systematische Erweiterung von Forschung um den Blick auf das Nicht-Lesen notwendig, die vorhandene Ansätze und Erkenntnisse verschiedener Disziplinen aufgreift. Auch Einstellungen und Werthaltungen, die Lesen in bestimmten sozialen Umgebungen tabuisieren, sowie bewusste Entscheidungen gut alphabetisierter Personen gegen habitualisiertes Lesen sollten hier Berücksichtigung finden.
3. Forschung zum Lesen muss die Eigengesetzlichkeiten aller Lesemedien berücksichtigen und ernst nehmen
Studien, die das Lesen auf digitalen Trägermedien betrachten, zeichnen ein ambivalentes Bild und noch übersteigt die Zahl der offenen Fragen die der bisherigen Antworten bei weitem. In der Öffentlichkeit werden häufig vor allem diejenigen Befunde beachtet und ernst genommen, die eine Überlegenheit gedruckter Medien nahelegen. Untersuchungen, die Lesen auf Papier mit Lesen auf Bildschirmen vergleichen, nehmen meist das gedruckte Medium zum Maßstab und versuchen, digital ähnliche Bedingungen herzustellen. Jedoch übersetzen digitale Trägermedien analoge Welten nicht einfach elektronisch, sondern schaffen andere, z. T. erweiterte Nutzungs- und Rezeptionsbedingungen. Forschung zum Lesen muss die Eigengesetzlichkeiten des Digitalen sowie grundsätzlich aller Lesemedien stärker berücksichtigen und sich konzeptionell wie methodisch den gegenwärtigen ausdifferenzierten medialen und materiellen Bedingungen öffnen. Dazu müssen künftige Untersuchungen die Dichotomie von Print- und digitalen Produkten überwinden und die Rezeptionsweisen aller gegenwärtigen Trägermedien als solche in ihren kontextuellen Besonderheiten und pragmatischen Potentialen fokussieren.
Zur Umsetzung der genannten Empfehlungen regen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Symposiums an,
- den in Hannover angestoßenen Austausch in sinnvollen zeitlichen Abständen zu wiederholen und in einem geeigneten Format zu verstetigen,
- die in Hannover vertretenen Fachdisziplinen sukzessive um neue Fachrichtungen und Perspektiven zu erweitern,
- eine gemeinsame Plattform zu schaffen, um eine Sichtbarkeit aller Forschungsprojekte und -vorhaben zu gewährleisten, die sich mit Fragen des Lesens beschäftigen,
- interdisziplinäre Forschungsverbünde und Forschungsschwerpunkte anzustoßen, die grundsätzliche und aktuelle Fragen aufgreifen.
Die unterzeichnenden Personen sehen dieses Statement als Anstoß und Einladung an alle Kolleginnen und Kollegen, sich in einem interdisziplinären Netzwerk Leseforschung gemeinsam für die konzeptionelle und methodische Öffnung der Forschung einzusetzen und mit grundlagen- sowie mit anwendungsbezogenen Ergebnissen alle Dimensionen des Lesens aufzugreifen und abzubilden.
Die Website https://www.netzwerk-leseforschung.fau.de wird die zentralen Aktivitäten des Netzwerks Leseforschung kommunizieren und Initiativen bündeln.
Dezember 2019
Das Papier zum Download als PDF